Vertraute Gerüche – Teil 2

Integration, Unterschichten und Untermenschen

In der letzten Ausgabe hatten wir Euch einige Gedanken zur Integrationsdebatte und ihren Hintergründen angeboten. Dass dabei wenig von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit die Rede war, hat sicher einige LeserInnen sicher gewundert. Auch in diesem zweiten Teil verzichten wir darauf darzulegen, warum Rassismus schlecht ist. Wir setzen die Überlegung fort, dass der Streit um “Integration??? ein Teil der Auseinandersetzung ist, wie mit all den für die Wirtschaft unnützen Subjekten umzugehen ist. Mit all jenen, die unverwertbar sind, deren Arbeitskraft dauerhaft niemand kaufen will, mit denen, die für ein im Dienste des Kapitals stehenden Gemeinwesen eine Belastung darstellen. Wir haben dargelegt, dass die Selektion und Konkurrenz, die notwendiger Bestandteil des Regimes der Marktwirtschaft sind, jene VerliererInnen erst hervorbringt, die als Unterschicht tituliert werden und gegen die derzeit eine solch schmutzige Kampagne geführt wird. Sarrazin und Co. gehen dagegen natürlich davon aus, dass es die Existenz dieser Unterschicht ist, die zu Armut  und Delinquenz und weiterem Elend führt. Der Themenkomplex Fremdenfeindlichkeit und Rassismus ist also nur eine (wichtige) Zutat der sogenannten Integrationsdebatte. Es ist kein Zufall, dass der Autor des „Sachbuchs“ „Deutschland schafft sich ab“ als erstes und in erster Linie einen Feldzug gegen den unproduktiven Hartz IV-Abschaum führte.

Einig sind sich Sarrazin und seine bürgerlichen KritikerInnen darin, dass „der Mensch“ dem Wohle der deutschen Wirtschaft zu dienen hat. Sein gesellschaftlicher Wert bemisst sich daran, in welchem Maße er dieser seiner Bestimmung gerecht wird.

Die Ansichten Sarrazins und seiner bürgerlichen KritikerInnen unterscheiden sich im wesentlichen lediglich in den teilweise unterschiedlichen Antworten, die sie auf die von ihnen ausgemachte bevölkerungspolitische Herausforderung finden. Sind Unterschichtler und Kopftuchmädchenproduzenten durch die harte, aber fürsorgliche Hand des Staates noch formbar? Können wenigstens ihre Kinder noch zu verwertbaren StaatsbürgerInnen zugerichtet werden? Ist das Problem eher ein Genetisches oder ein Soziales? Derart sind die Fragen, zu denen Thilo Sarrazin und Ursula von der Leyen unterschiedlicher Meinung sind. Dass Deutschland sich abschafft, glauben wohl allenfalls die bescheuertsten Anhänger Thilo Sarrazins. Dass es ein Bevölkerungs- und Migrationsproblem gibt, das im Sinne der KapitalistInnen gelöst werden muss – diese Meinung teilen sie alle.

Überflüssige, Unintegrierte und Eugenik

(Kostenlose Schwangerschaftsfürsorge für arme Mütter) „trägt dazu bei, dass  die gesünderen und normaleren Teile der Welt die Last der gedanken- und rücksichtslosen Fruchtbarkeit anderer schultern; Dies bringt, und der Leser muss hier wohl zustimmen, einen Ballast menschlichen Abfalls mit sich. Anstatt die Bestände, welche der Zukunft der menschlichen Rasse und der Welt am abträglichsten sind, zu vermindern und darauf abzuzielen sie zu eliminieren, ist dies darauf gerichtet, sie in einem bedrohlichen Maße dominant zu machen.
Margaret Sanger, Der Angelpunkt der Zivilisation, 1922

Ein wichtiges Problem, das von der Leyen und Sarrazin gleichermaßen haben: Die unproduktiven und minder verwertbaren Teile der Bevölkerung vermehren sich stärker als die Ober- und Mittelschichten. Die herrschende Klasse, ihre PolitikerInnen und ihre Intellektuellen kennen eine Reihe von Maßnahmen, mit denen diesem Problem begegnet werden kann. Steuerung der Population (und bei Sarrazin und Co. immer auch Züchtung) durch Migrationsplanung ist eine davon. FacharbeiterInnen und AkademikerInnen dürfen rein, vor allem, wenn sie aus verträglichen “Kulturkreisen??? kommen und also keine Absichten haben, nebenbei einen Flugschein zu machen. Nicht Integrierbare (früher hieß das “Artfremde???), fruchtbare Gemüsehändler, kriminelle kurdische Kleinkinder usw. müssen draußenbleiben, werden rausgeschmissen oder so lange schikaniert, bis sie “freiwillig??? gehen. Züchtung nach von der Leyen und Familienministerin Schröder sieht natürlich außerdem Wurfprämien für AkademikerInnen und entmutigenden Terror gegen arme Eltern vor, außerdem verstärkte staatliche  Betreuung und Zwangserziehung für dennoch produzierte Unterschichtskinder. Hinter den unterschiedlichen Vorstellungen zu den Details steht lediglich die beschissene alte Diskussion um den Einfluss von Anlagen vs. den Einfluß der Sozialisation.
Sarrazins Ansichten zur Bevölkerungs- und Zuwanderungspolitik sind alles andere als neu. Die zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Margaret Sanger (1879 – 1966), eine amerikanische Frauenrechtlerin  und bedeutende Vorkämpferin für das Recht auf Empfängnisverhütung, teilte ihre rassistischen und rassenygienischen Ansichten mit sozialistischen Intellektuellen wie H.G. Wells und Jack London. Sanger empfahl „eine strikte und unbeugsame Politik der Sterilisierung und Absonderung jener Teile der Bevölkerung anzuwenden, deren Nachkommenschaft verdorben ist, oder deren Erbgut von solcher Art ist, dass verwerfliche Charakterzüge möglicherweise auf den Nachwuchs übertragen werden.“ (A Plan For Peace, 1932) und eine nach IQ gesteuerte Zuzugspolitik, durch die KatholikInnen, Juden und Jüdinnen und die Habenichtse aller Länder von den USA ferngehalten werden sollten. Das Konzept der Intelligenz ist eine der infamsten Rechtfertigungsideologien der Herrschenden. Natürlich spielt auch in der Eugenikbewegung der Rassismus der Intelligenz eine zentrale Rolle. Wie halt auch bei Dr. Sarrazin.
Sarrazins „Tabubruch“ ist eben nichts als das Wiederkäuen von Vorstellungen und Konzepten, die schon vor etlichen Jahrzehnten weit verbreitet waren – von der politischen Rechten bis in das (westliche) sozialistische Lager hinein. Einen Grund, ihn aus der SPD auszuschließen, stellen seine Überzeugungen eigentlich nicht dar. Sie sind so sozialdemokratisch wie Noske und der Verrat am Proletariat.
In vielen sozialistischen Strömungen, die sich nicht oder nicht ausreichend auf das Proletariat als führende Kraft bezogen, spielte Eugenik (bis hin zu Plänen, eine „Superrasse“ zu züchten) seit der zweiten Hälfte des 19. Hahrhunderts eine wichtige Rolle. Die AnhängerInnen sozialistischer Eugenik bezogen sich auf die nationalökonomischen Bevölkerungstheorien Thomas Robert Malthus´ und auf Konzepte, die sich  der Übertragung der Darwinschen Lehre in die Sphäre der menschlichen Gesellschaft widmeten. Selbst die konsequente Umsetzung dieser Vorstellungen durch die NationalsozialistInnen führten nicht zu einer dauerhaften Schwächung eugenischer Positionen. 1941 wurde in Schweden das ohnehin umfangreiche Sterilisationsprogramm erweitert. Es umfasste medizinische und soziale Indikationen, blieb in den Jahrzehnten des sozialdemokratischen Wohlstandsstaates in Kraft und wurde erst 1976 eingestellt. In Deutschland entsprach die Zwangssterilisation von behinderten Frauen übrigens bis 2003 der Gesetzeslage.

Der echte Horror vor Unterklassen und Fremden

Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun. Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.
Horst Seehofer, bayerischer Ministerpräsident

Ein besonderes Problem in der Integrationsdebatte stellen anatolische Gemüsehändler und arabische Kriminelle dar, die zu viele Kopftuchmädchen produzieren sowie Libanesen die laut “Bild??? zu 90% von der Stütze leben. Neben den Aspekten der Bevölkerungsplanung greift hier noch etwas anderes: Eine echte Furcht vor „dem Fremden“, echter Rassismus in weiten Teilen der Bevölkerung, auf den die “Integrationsdebatte??? trifft. Noch immer fällt es der herrschenden Klasse recht leicht, Opfer des Kapitalismus und Unterdrückte zur Solidarisierung (und sogar Identifizierung) mit den UnterdrückerInnen zu bewegen. Nicht wenige derjenigen, die einen Scheißdreck zu sagen haben gefallen sich in der Illusion, sie könnten als Teil eines großen Kollektivs der Deutschen/der Anständigen oder was auch immer Autorität ausüben.
Wenigstens über die Teilnahme an der Hetze gegen “Ausländer??? und “Arbeitsscheue??? findet so manch autoritärer Charakter Trost.
Wie froh waren diese Menschen, dass da endlich mal einer Klartext redet. Ein Tabubruch soll das sein, und damit ist gemeint, dass nicht jedes bürgerliche Medium immer bereit ist, rassistischen und nazinahen Dreck zu verbreiten. Was wollen die denn sagen (und dürfen angeblich nicht) wenn sie äußern: „Aber in Deutschland darf man heutzutage Manche Sachen ja gar nicht mehr sagen“  Was sie damit jeweils meinen, ergibt sich aus dem Kontext. Zum Beispiel könnte die Rede sein von Juden und Geld, linken Demonstranten und wie mit radikaler Opposition früher mal verfahren wurde usw.
Dass da „endlich mal einer sagt“, was sowieso ständig in vielen Medien präsentiert wird, nehmen RassistInnen, EugenikerInnen und kleinbürgerliche Faschismusfans auch deswegen so begeistert auf, weil es ein  „Intellektueller“ und Nicht-Nazi ist, der da spricht. Und vom kleinen CSU-Deppen bis zum SPD-Chef sprangen sie alle auf den Zug auf. Die Nürnberger SPD lud sich immerhin nur Buschkowsky (SPD), den Sarrazin für Vorsichtige, ein.
Die einen Opfer des Systems gegen die anderen auszuspielen ist immer noch die stärkste und wichtigste Waffe der Herrschenden. Dass nach einer aktuellen Studie der Universität Leipzig für die Friedrich-Ebert-Stiftung sich ausländerfeindliche Ansichten, abgesehen von den AnhängerInnen von Naziparteien, am ehesten bei ParteigängerInnen der SPD finden verwundert kaum. Das Wort „minderwertig“ nimmt in diesem Zusammenhang momentan keiner aus dem bürgerlichen Lager in den Mund, stattdessen heißt es zum Beispiel, der Zuzug von“weniger intelligenten und integrationsunfähigen“ Menschen sei zu verhindern. Von Art, Rasse und Genen ist im Integrationsdiskurs der Mitte meistens nicht die Rede. Stattdessen sind nun “Kulturkreise???, “rückständige Sozialisation??? und “Parallelgesellschaften??? und “Islam??? rassistische Kampfbegriffe. Das ist moderner und weniger offen irrational – sonst ist der Unterschied gering.
Gerne suhlen sich deutsche RassistInnen in der Vorstellung, sie seien die eigentlichen Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus – nämlich einer unter MigrantInnen in Deutschland übel um sich greifenden Deutschenfeindlichkeit. Eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen wird zwar in diesem Zusammenhang gerne zitiert, belegt aber eher eine erstaunliche Deutschenfreundlichkeit der MigrantInnen und stellt zudem einen deutlichen Zusammenhang zwischen sozialer Ausgrenzung und „deutschenfeindlicher“ Einstellungen her. Deshalb kommen Sarrazin und seinesgleichen in diesem Zusammenhang auch lieber mit Beispielen aus dem Bereich des Hörensagens daher. Oder mit eigenen, schlimmen Erfahrungen:
Familienministerin Kristina Schröder will von anonymen Anrufern als „deutsche Schlampe“ bezeichnet worden sein und findet das ganz schrecklich. Sie ist eben uns noch nicht begegnet.
Sicher haben der mobilisierte Rassismus und die mediale Integrationsdebatte viele Funktionen und Hintergründe, auf die wir hier nicht eingegangen sind. Sie seien wenigstens erwähnt:
Zum Beispiel verhinderte die Debatte eine stärkere öffentliche Artikulation der Unzufriedenheit mit der Verteilung der Krisenkosten. Sie kam rechtzeitig nach Fußball-WM und Urlaubszeit. Mit ihrem Abklingen wurde eine “sehr ernste??? Terrorwarnung ausgegeben und demnächst ist wohl eine neue Epidemiewarnung fällig.
Ein weiterer Aspekt, der nicht mehr behandelt werden kann:
Deutschland wird immer dümmer, meldet die Bildzeitung zu Sarrazins Thesen. Statt sich darüber zu freuen, da es eine Steigerung der Auflage verspricht, schlägt das Springerblatt aber natürlich Alarm. Sie tut dies im Verlauf der Integrationsdebatte in zig Ausgaben auf der Titelseite. Die “Bild??? und andere Medien sind aktiver Teil einer großangelegten Kampagne, mit der die Etablierung einer neuen bürgerlichen Kraft rechts der CDU/CSU vorbereitet werden soll, wenn nicht als Partei, dann als strukturierte parteiübergreifende Strömung. Die SPD erfüllt diese Aufgabe nämlich nicht in gewünschtem Maße.
Und schließlich: Sarrazin, die meisten seiner AnhängerInnen und sogar von der Leyen, Gabriel, Seehofer und Schröder sind keine Nazis. Ihre Vorstellungen, die auf Rassenygiene und Züchtung hinauslaufen, haben lediglich dieselbe Quelle wie die Bevölkerungstheorien der Nationalsozialisten. Auch wenn sie ihr Deutschland nach ihren Träumen einrichten könnten bliebe eine “globale Unterschicht??? und für den Kapitalismus überflüssige Poulation weltweit bestehen. Auf internationaler Ebene läuft das Denken der Integrationsdebattierer auf Eugenik und Ausgrenzung in weltweitem Maßstab hinaus.

Antworten?

Die Antwort mancher Linker auf die Zumutungen von Integrationsblabla war manchmal naiv und dumm, nämlich eine einfache Reaktion: Mit der Ablehnung falscher Schlüsse auch diesen Schlüssen zugrundeliegende Teile der Wirklichkeit zu leugnen. Mit der Ablehnung des Sozialdarwinismus die Evolutionstheorie ablehnen. Mit dem Kampf gegen Biologismus gleich biologische Grundlagen negieren, usw. Bei der Dekonstruktion von falschen Konzepten und beim Kampf gegen den „Fakten“- und Evidenzterror der politischen und akademischen VertreterInnen dieser falschen Konzepte echte Fakten zu ignorieren statt sie unter dem Aspekt des Klassenkampfs zu interpretieren.
Hinter einer gutgemeinten „dekonstruktiven“ Herangehensweise blüht und gedeiht dann oft der eigene Rassismus – und fast immer auch Klassendünkel. Ein solcher Rassismus widmet sich seinem Objekt meist perfide und gönnerhaft, z.B. als Kulturrelativismus. Im direkten Kontakt mit seinen Objekten wird ein solcher Rassismus dann aber oft schnell manifest. Nicht wenige der AnhängerInnen Sarrazins dürften „desillusionierte“, vormals unter falschen Voraussetzungen wohlmeinende, ehemalige VertreterInnen von kleinbürgerlichen „multikulturellen“ Konzepten sein. Sie sind nicht über ihr Erleben der sozialen Realität zu RassistInnen geworden, sondern haben einen Rassismus gegen einen anderen getauscht. Das Problem ist nicht alleine eines von Pseudolinken an Eliteuniversitäten oder in Lehrerkollegien. Auch radikale Linke greifen leicht zu falschen Antworten auf den rassistischen Diskurs. Dies ist etwa dann der Fall, wenn über eine Solidarisierung mit (potentiellen) Rassismusopfern ein gewendeter Rassismus zur Anwendung kommt und etwa auf Kritik an Patriarchat und  feudalem und rassistischem Bewußtsein verzichtet wird. Dies trifft auch zu, wenn im Kampf gegen gegen die politisch geförderte Islamfeindlichkeit Religionskritik über Bord geworfen wird. Wer solches tut, fällt direkt den emanzipatorischen Kräften in den derart herablassend behandelten Gesellschaften in den Rücken.

Erschienen in barricada – Dezember 2010