Revolutionäre Perspektiven für die „arabische“ Welt

Muhammed Bouazizi. Ein junger Tunesier, dessen Name vor seinem Tod außer seiner Familie und seinen Freunden keinem etwas bedeutet haben dürfte. Ein junger Akademiker, der wie unzählige Andere mit der Massenarbeitslosigkeit konfrontiert war und sein Leben als fliegender Händler zu bestreiten versuchte, zündete sich selbst an, als die Polizei seinen Obst- und Gemüsestand beschlagnahmen wollte. Muhammed hatte die Arbeitslosigkeit und die Armut, aber auch die Herrschaft einer korrupten Elite satt, die, unterstützt von kapitalistischen Kernländern, den gesellschaftlich produzierten Reichtum in ihre eigene Tasche stopft. Er zündete sich an, da er dachte, dass seine Stimme sonst nicht gehört würde.

Doch war Muhammed bei weitem nicht alleine. Die Menschen hörten seine Stimme und sein Tod war der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Millionen von Menschen litten und leiden unter den selben Problemen und das nicht nur in Tunesien, sondern in der ganzen „arabischen Welt“: Massenarbeitslosigkeit, Armut und Staaten, die ihre Unterdrückerrolle offen ausleben. In Tunesien, einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung jünger als 30 Jahre sind, von welchem über 30 Prozent arbeitslos sind, wurden die Menschen wütend und ihre kollektiven Aktionen, die aus dieser Wut folgten, machten sie ihrer kollektiven Macht (zumindest intuitiv) bewusst: Zine al Abidine Ben Ali, welcher sich 1987 an die Macht geputscht und Tunesien seitdem harmonisch mit der Außenpolitik imperialistischer Staaten regiert hatte, musste aufgrund nicht aufhören wollender und immer militanter werdender Proteste das Land verlassen, um ein noch bittereres Ende für sich zu vermeiden. Ben Ali fand in Saudi Arabien, einem weiteren „Freund“ der westlichen imperialistischen Mächte, dessen undemokratisches und repressives politisches System niemals kritisiert wird, Unterschlupf. (Die saudi-arabischen Freunde pseudo-demokratischer Staaten hatten bereits Erfahrung mit gefallenen Diktatoren, die die alten Kumpels aus Europa und Amerika nicht aufnehmen können, um ihrem demokratischen Image nicht zu schaden.)

Taten die Mainstreammedien hierzulande zunächst so, als ließe sich eine Kettenreaktion ausschließen, sah die Wirklichkeit anders aus: Der Aufstand steckte zunächst die ägyptische Gesellschaft an und der nächste Dominostein hieß Mubarak. Mubaraks Diktatur, bis vor kurzem als eines der stabilsten Regimes in der gesamten Region eingeschätzt, hielt dem Aufstand von Millionen, die gegen Armut, Korruption, Folter und Morde auf die Straße gingen, nicht stand.

Wenn auch die Revolutionen in Tunesien und Ägypten bisher politische geblieben sind, d.h. nicht über einen Wechsel der herrschenden Elite hinausgingen, bestehen heute die revolutionären Bewegungen weiter, welche Ben Ali und Mubarak weggefegt haben und die Menschen in diesen Ländern sind sich ihrer kollektiven Macht bewusster geworden als sie je zuvor waren. Für die Herrschenden wird es nicht leicht sein, so wie bisher zu regieren und das Bewusstsein darüber, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, in Vergessenheit geraten zu lassen.

Nicht ohne Grund sind auch die Herrschenden hierzulande besorgt über die Ereignisse, die die „arabische Welt“ erschüttert haben. Der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion der CDU/CSU sprach diese Besorgnis wahrscheinlich am deutlichsten aus: „Wofür die Opposition in Ägypten eigentlich steht, ist derzeit völlig unklar. Es ist fraglich, ob nicht die Muslimbruderschaft oder andere Islamisten von den Protesten profitieren – und das Land in eine andere Richtung steuern als wir wünschen.“

Von vertrauten Partnern und Diktatoren

Tat die hiesige politische Elite einerseits so, als wäre Ben Alis bzw. Mubaraks Diktatur nicht jahrelang ihr vertrauter Partner gewesen,1 musste sie zugleich zugeben, dass sie die diktatorischen Regimes in der „arabischen Welt“ „aus Angst vor einer Machtübernahme der Islamisten“ unterstützt hat. Es gilt nun zu retten, was noch zu retten ist: Endlich dürfen die TunesierInnen und ÄgypterInnen die Demokratie genießen „wie wir“, da die Diktatoren endlich weg sind. Dass nicht das, was „wir“ haben und den Menschen in der „arabischen Welt“ fehlt, nämlich eine Pseudo-Demokratie, die die Klassenherrschaft trägt und tarnt, die Bewegung auslöste, die in Tunesien und später in Ägypten in politische Revolutionen mündete, sondern unser aller Probleme weltweit, musste unkenntlich gemacht werden: ein ausbeuterisches Wirtschaftssystem, in dem die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden, und unterdrückerische politische Systeme, in denen die Macht stets die einer Minderheit bleiben muss, egal wie sie aussehen und sich nennen mögen.

Die bisherigen Geschehnisse in Tunesien und Ägypten, aber auch in anderen Ländern wie Jemen, Bahrain oder Libyen zeigen deutlich, dass die angeblich gefürchteten Islamisten bei den Protesten und Aufständen keine führende Rolle inne haben, was freilich nicht bedeutet, dass die Islamisten bisher nicht Teil dieser Bewegungen gewesen sind. Auf der Straße waren und sind u.a. alle traditionell oppositionellen Bewegungen, die von den bestehenden Diktaturen Jahrzehnte lang unterdrückt wurden; aber diese sind weit davon entfernt, die Bewegungen alleine zu gestalten bzw. zu führen. Sowohl die linken als auch die islamistischen Strukturen konnten sich gegen die Repression nicht behaupten. In Tunesien und Ägypten wurde die traditionelle Linke in den 50er bzw. 60er Jahren zerschlagen und Organisationen wie die Muslimbruderschaft, die die beliebtesten Akteure westlicher Horrorszenarien sind, waren in ihrer Geschichte selten so schwach wie heute.

Um das Schicksal Tunesiens und Ägyptens nicht dem „Chaos“, also dem Willen der Bevölkerung, zu überlassen, wurden Übergangsregierungen gebildet, die für die bisher herrschenden Eliten die Machterhaltung gewährleisten sollen. Ob ihnen das gelingen wird, ist jedoch noch unklar. Die dem Umsturz Mubaraks folgende Machtergreifung der ägyptischen Armee befriedigte bei weitem nicht die ganze Bewegung: Während sich die Anti-Mubarak-Fraktion des Großkapitals und die nationalistische Mittelschicht sowie die Muslimbruderschaft 2 mit dieser Situation schnell abfanden, um einem radikalen Wandel in der Gesellschaft vorzubeugen, der ihre Privilegien gefährden könnte, sind Andere noch auf der Straße und kaufen den Generälen ihre Lügen über einen „Wiederaufbau Ägyptens“, an dem nun alle beteiligt sein sollten, nicht ab. Drei Tage vor Mubaraks Rücktritt begann die größte Streikwelle im Land seit 1946, welche bisher nicht abebbte. Die Forderungen der streikenden  ArbeiterInnen sind nicht ausschließlich ökonomische, sondern auch politische, die sich mit denen der großen Bewegung decken. Schon 2006 hatte ein dreitägiger Generalstreik stattgefunden, der neben höheren Löhnen und mehr Rechten am Arbeitsplatz auch die allgemeine Demokratisierung des politischen Systems zu seinen Forderungen zählte. Diesem folgte eine Repressionswelle, die die im Entstehen begriffene neue Gewerkschaftsbewegung zerschlug. Mittlerweile haben die ArbeiterInnen durch Mubaraks Umsturz erneut Mut gefasst und wollen nicht nach Hause ohne ihre Forderungen durchgesetzt zu haben, da sie nicht mehr in der Lage sind, ihre Familien zu ernähren. Die Streikenden haben u.a. die Gründung neuer freier Gewerkschaften vor, die unabhängig von der korrupten, regimekonformen Ägyptischen Gewerkschaftsföderation agieren und tatsächlich die Interessen der Lohnabhängigen vertreten sollen.

Die Herrschenden anderer Länder in der Region riefen verschiedenste Maßnahmen ins Leben, die eine Inspiration ihrer Bevölkerungen durch das Beispiel von Tunesien und Ägypten verhindern sollten: Die Erfüllung unbedeutender Teilforderungen wurden versprochen, sogar teilweise schnell umgesetzt; in Jordanien wurde die Regierung nach Demonstrationen, die für das Land keine außergewöhnliche Größe erreichten, vom König Abdullah abgesetzt; in Libyen entschädigte der Staat die Bauunternehmen für die besetzten Häuser statt wie üblich die Hausbesetzter mit brachialer Gewalt räumen zu lassen; in Marokko kündigte König Mohammed VI. an, dass die Grundnahrungsmittel- und Benzinpreise mit staatlicher Subvention eingefroren werden. Jedoch war die Verbreitung des Wunsches nach einem besseren Leben nicht mehr mit solchen Maßnahmen aufzuhalten.  Die Kettenreaktion, die von den Kämpfen in Tunesien ausgelöst wurde, machte in Ägypten auch nicht halt und erstreckt sich zur Zeit auf fast die gesamte „arabische Welt“. In Marokko, Algerien, Jordanien fanden und finden Massenproteste statt; in Bahrain, Jemen und Libyen antworteten die Herrschenden mit brutalster Gewalt auf die Demonstrationen. In Jordanien setzte der König Abdullah zwar die Regierung ab, um die Proteste für politische Reformen einzudämmen; jedoch wird die neue Regierung vom ehemaligen Ministerpräsident des Landes Bachit (2005-2007) gebildet, was eine tatsächliche Veränderung im politischen System Jordaniens recht unwahrscheinlich macht. In Libyen rief die Opposition zum „Tag des Zorns“ auf und diesem Aufruf folgten breite Massen in vier Städten Libyens. Während mehrere Polizeiwachen und -autos angezündet wurden, benutzten die Polizei und die so genannten Revolutionskomitees scharfe Munition, um die Demonstrationen aufzulösen. Dutzende wurden erschossen. Im Jemen versammelten sich Zehntausende gegen die Regierung, aber auch Regierungsanhänger versammelten sich, um Gegendemonstrationen durchzuführen, und griffen zusammen mit der Polizei die Protestkundgebungen an, was mehreren Menschen das Leben kostete. In Bahrain wurde gegen die Demonstranten die Armee eingesetzt, welche das Feuer auf Unbewaffnete eröffnete. Drei Menschen kamen um und Hunderte wurden verletzt. Andere Golfmonarchien setzten ein Beispiel für internationale Solidarität unter Herrschenden, indem sie sich mit König Hamad bin Isa solidarisch erklärten. Es hieß, alle Mitglieder des Golfkooperationsrates seien bereit, die „Sicherheit und Stabilität“ anderer Mitgliedsstaaten zu garantieren.3 Es sollte nicht schwer zu erkennen sein, dass mit „Sicherheit und Stabilität“ die Sicherheit der Herrschenden und die Stabilität ihrer Herrschaft gemeint sind. Im Falle von Bahrain kann eine aktive Einmischung der US-amerikanischen Armee nicht ausgeschlossen werden, da das Land für die kriegerische Außenpolitik der USA im Nahen Osten als das Hauptquartier der fünften Flotte von großer strategischer Bedeutung ist.

An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Ereignisse, die seit Bouazizis Tod die „arabische Welt“ erschütterten und noch erschüttern, vollständig wiederzugeben. Allerdings sollten die obigen Schilderungen genügen zu zeigen, dass eine neue Bewegung im Entstehen begriffen ist, die in der gesamten „arabischen Welt“ das Leben verändern könnte. Aus diesem Grund möchten wir die Darstellung der bisherigen Proteste und Aufstände hier abbrechen, um uns der Untersuchung zukünftiger Möglichkeiten zu widmen.

Revolutinäre Perspektiven?für die „arabische Welt“?

In den meisten arabischen Ländern ist es bisher nicht möglich, den Ausgang der Proteste und militanten Auseinandersetzungen mit den Repressionsapparaten vorauszusagen. Sowohl die Behauptung, die Regimes seien stabil und auch in der Lage weiter stabil zu bleiben, als auch Prognosen über das Ende arabischer Diktaturen und repressiver Monarchien sind rein spekulativ.

In Tunesien und in Ägypten, wo die ersten Ergebnisse der Bewegung bereits sichtbar geworden sind, kann man (noch) nicht von sozialen Revolutionen sprechen. Auch wenn zwei seit Jahrzehnten herrschende Diktatoren gestürzt wurden, muss man selbst mit dem Begriff „politische Revolution“ vorsichtig umgehen.

In Tunesien soll eine Regierung unter Mohamed Ghannouchi regieren bis durch Neuwahlen eine „parlamentarische Demokratie“ eingeleitet werden soll. Die Übergangsregierung setzt sich größtenteils aus führenden Kadern von Ben Alis Partei zusammen. Selbst Ghannouchi war der zweite Mann unter Ben Ali und trat – ebenso wie die meisten Minister des neuen Kabinetts – erst nach der Bildung der Übergangsregierung aus der bis dato alleine regierenden Partei RCD aus. Dass die drei oppositionellen Gewerkschafter ihre Ämter in der Übergangsregierung bereits nach einem Tag aufgaben und sechs Minister – unter der Bedingung, dass sie aus der RCD austreten – ihre Ämter einfach weiter innehaben durften, stellt eindeutig dar, dass sogar eine tatsächliche politische Revolution erst noch erkämpft werden muss. Ministerpräsident Ghannouchi, welcher seit 1975 als hoher Bürokrat und seit dem Ben Ali-Putsch im Jahr 1988 als Minister und Vizevorsitzender der RCD stets große Macht innehatte, stellt bildhaft dar, in wessen Interesse die so genannte Demokratie eingeleitet und gestaltet werden soll.

In Ägypten folgte dem Rücktritt Mubaraks die Machtübernahme des Militärs. Zum Präsidenten wurde Mohammad Sayyid Tantawi ernannt, der laut wikileaks von US-amerikanischen Diplomaten als „Mubaraks Pudel“ bezeichnet wird. Das Amt des Vizepräsidenten hat Omar Suleiman, der Direktor des ägyptischen Geheimdienstes „Muchabarat“ übernommen, welcher für zahlreiche politische Morde und den Einsatz von zu tiefst unmenschlichen Foltermethoden verantwortlich ist.

Dass beide Übergangsregierungen mit Wissen und Unterstützung westlicher Mächte gebildet wurden und die alten verlässlichen Geschäftspartner zunächst durch andere ebenfalls bekannte und verlässliche ersetzt wurden, zeugt davon, dass weder der Status quo, noch die imperialistischen Macht- und ökonomischen Interessen westlicher Mächte von den Geschehnissen unbedingt betroffen sein werden. Sowohl die tunesischen bzw. ägyptischen Eliten als auch die imperialistischen Mächte werden alles in ihrer Macht liegende tun, um das Erstarken revolutionärer Tendenzen zu verhindern und die „Sicherheit und Stabilität“ (ihrer Macht- und ökonomischen Interessen – versteht sich von selbst) weiterhin zu gewährleisten.

Erreicht wurde bisher, dass es die Menschen geschafft haben ihrer Wut einen politischen Ausdruck zu verleihen und sich dadurch ihrer eigenen Macht bewusst wurden. Dass es den Bewegungen unerwartet leicht fiel, Ben Ali sowie Mubarak zu stürzen, lag daran, dass nicht nur die westlichen Mächte, sondern auch die politisch, militärisch sowie ökonomisch Herrschenden Tunesiens und Ägyptens den Diktatoren die Unterstützung verweigerten, um die Umgestaltung der politischen Systeme selber in die Hand zu nehmen und somit einen radikalen Wandel zu verhindern.

Sowohl in Tunesien und Ägypten als auch in den anderen arabischen Ländern, in denen der Ausgang der militanten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Repressionsapparaten der Herrschenden noch unklar bleibt, existieren keine revolutionären oder reaktionären (wie z.B. islamistische oder nationalistische) politischen Strukturen, die fähig wären, die Bewegung zu tragen. Auch wenn eine linke Widerstandstradition vor allem in Ägypten und Tunesien eine lange und an Kämpfen reiche Geschichte hat, sind deren Strukturen heute noch schwach und relativ unbedeutend. Dies hinderte die Massen jedoch nicht daran, solidarisch untereinander und kämpferisch gegen das System aufzutreten. Vor allem in Ägypten entstanden in den letzten Jahren emanzipatorische Basisbewegungen (z.B. wie die neue Gewerkschaftsbewegung, die Jugend- und Frauenbewegungen), die durch die revolutionäre Bewegung ihre Bedeutung unglaublich schnell vergrößern könnten. Die autonome Aktion der Menschen hat bisher das Unerwartete vollbracht, sie könnte auch die revolutionären Strukturen schaffen. Uns bleibt dem kreativen Kampfgeist der Menschen zu vertrauen und diesen mit kritischer Solidarität und revolutionären Kämpfen hier – „im Herzen der Bestie“ –  zu unterstützen.

1 Westerwelle sprach nach seinem Ägyptenbesuch im Mai 2010 von „der traditionellen engen Partnerschaft zwischen Deutschland und Ägypten“ und bezeichnete Mubarak als einen „Mann mit enormer Erfahrung, großer Weisheit, der die Zukunft fest im Blick hat.“

2 Dass die Muslimbruderschaft zu denen gehörte, die sich mit Mubaraks Rücktritt zufriedengeben, und Bereitschaft zeigte, von nun an zu kooperieren, zeugt von der Tatsache, dass diese Bewegung, einst ein Sammelbecken unzufriedener armer junger Männer, sich längst verzivilgesellschaftet und verbürgerlicht hat und die Beibehaltung des Status Quo einem radikalen Wandel der ägyptischen Gesellschaft vorzieht.

3 Zum Golfkooperationsrat gehören neben Bahrain Saudi Arabien, Kuwait, Oman, die Vereinigten Emirate und Katar.

Erschienen in barricada – März 2011