Allerta, allerta, parole?

Demo-Sprechchöre: Zwischen Spontaneität und Choreographie

Eine der ersten kollektiven Erfahrungen, die politisch bewegte Menschen auf Demonstrationen machen, ist das gemeinsame Rufen mehr oder weniger inhaltlich gehaltvoller Sprechchöre, oft auch „Parolen“ genannt. Der erste bewusste Kontakt, den ZuhörerInnen mit linken Parolen haben, kann von so sinnvollen Aussagen, wie „Siemens, Daimler, Deutsche Bank – Der Hauptfeind steht im eig‘nen Land!“ über grenzwertiges wie „Ein Baum, ein Strick, ein Nazigenick!“ bis zu ironischen Späßen wie „Gebt den Linken mehr zu trinken“ reichen.

Diese, meist von allen RuferInnen gleichzeitig, aber auch manchmal mit Rollenverteilung gerufenen Parolen, haben eine sinnvolle Funktion im Kontext der linken Bewusstseinsbildung.  Einerseits wird durch das gemeinsame Rufen zu einem gewissen Grad Geschlossenheit demonstriert, was natürlich sowohl nach Innen, als auch nach Außen wirkt. Andererseits haben die Parolen meist auch eine inhaltliche Bedeutung, die – wiederum auch nach Innen und Außen – das Bewusstsein prägen kann. Parolen sorgen natürlich auch für Stimmung, können eine Dynamik entwickeln und wiedergeben, wie es mit z.B. einem Lautsprecherfahrzeug allein kaum gelingen kann.

Im Zeitalter günstigerer Lautsprechertechnik und wachsender Professionalisierung linker Demonstrationsformen geraten die von DemonstrantInnen spontan skandierten Parolen jedoch zunehmend in den Hintergrund. Allgegenwärtige Beschallung durch Lautsprecherfahrzeuge und Megaphon-AufheitzerInnen bestimmen zunehmend die akustische Szenerie auf Demonstrationen und Kundgebungen. Während der dauerhaft Musik dudelnde Lautsprecherwagen die Demo manchmal eher einschläfert als motiviert, gelten Megaphonschwingende AufheizerInnen – ganz nach dem Vorbild der „Capos“ aus den Ultra-Gruppen der Fußballszene vielen selbsternannten Szene-Choreographen als das non-plus-ultra (kleiner Wortwitz am Rande – Anm. d. Redaktion). Dabei wäre es durchaus wünschenswert, würde eine gewisse Spontaneität und Dynamik in den Parolen zum Ausdruck kommen, die aus den einzelnen Erfahrungen der DemoteilnehmerInnen gespeist wird und zum richtigen Zeitpunkt in spontaner Kollektivität zu einem Sprechchor zusammenfließt. Werden die Parolen dagegen hauptsächlich vorgegeben, durch Lautsprecherwagen oder Megaphon-Capos, entsteht diese Spontaneität nur selten und verliert auch ihren kollektiven Charakter. Eine Kritik, die es übrigens auch am Agieren der Ultra-Capos in Stadien nicht erst seit gestern gibt.

Psychologie der Parole

Ob aber nun spontan, oder organisiert: Die Außenwirkung von Demonstrationen hängt stark davon ab, ob etwas gerufen wird und was gerufen wird. Auch wie viele etwas rufen, ob gleichzeitig verschiedene Parolen gerufen werden, ist sehr wichtig für den Eindruck den eine Demonstartion auf Außenstehende, aber auch auf TeilnehmerInnen macht. Unbestritten sorgt ein laut aus vielen Kehlen angestimmter Sprechchor oder Gesang für Aufmerksamkeit. Vor allem dann, wenn das Gerufene plötzlich in den Alltag einbricht, z.B. die betäubende Atmosphäre der Konsummeilen zerreist. Der kollektiv gerufene Sprechchor durchbricht das gemurmelte, chaotische Alltagshintergrundrauschen selbst an Orten hektischer Betriebsamkeit, da kollektives Handeln dort als Fremdkörper empfunden wird. Dass viele Menschen gleichzeitig dasselbe brüllen, macht außerdem Eindruck. Für jene, die das Gerufene teilen, oder sogar mit rufen, ist es Bestätigung und Ermutigung. Für andere, die es nicht teilen, eine Einschüchterung. Einzelne mit anderer Meinung müssen sich zuerst einmal trauen, gegen die Stimme der Vielen anzureden. Eine Demonstration, deren TeilnehmerInnen zusammen lautstark Parolen brüllen, vermittelt nach außen ein sehr geschlossenes Bild. Eine Herausforderung für linke Gruppen, die tatsächlich Außenstehende mit ihren öffentlichen Aktionen ansprechen wollen, ist es, dass diese Geschlossenheit nicht isolierend wirkt. Ähnlich wie andere kollektive Demonstrationsformen, (z.B. der „Schwarze Block“), sollte der Einsatz von Parolen angepasst an konkrete Situationen erfolgen. Da wir in der radikalen Linken den Schwerpunkt der Verantwortung auf Demonstrationen nicht irgendwelchen FührerInnen zuweisen, sondern jede und jeder MitdemonstrantIn die Verantwortung mittragen sollte, ist gerade bei der Auswahl von Parolen jede und jeder gleichermaßen gefordert. Auch wenn es mittlerweile üblich ist, dass auf Demonstrationen Zettel mit Parolen verteilt werden, ist es doch sinnvoll, dass jede und jeder sich selbst was ausdenkt. Die perfekte, universelle Parole gibt es dabei natürlich nicht. Tatsächlich ist der Zeitpunkt, wann eine Parole angestimmt wird und wen sie erreichen soll, sehr wichtig. Denn was im Alltag menschlicher Kommunikation gilt, gilt auch für Demos. Wer kennt das nicht: Nach einem unangenehm verlaufenen Gespräch fällt einem auf, was mensch doch alles sinnvolles, witziges, provokatives, etc. hätte sagen können. Gesagt wurde aber nur mehr oder weniger zusammenhangloser Unsinn. Jetzt noch den oder die GesprächspartnerIn/-gegnerIn erneut zu kontaktieren und das Gespräch mit den neu gewonnenen rhetorischen Erkenntnissen zu wiederholen, wäre erstens peinlich und würde, wahrscheinlich, zur nächsten Niederlage führen. Bei Parolen ist es ähnlich. Wenn in einer brisanten Situation nicht das richtige gerufen wird, ist eine Gelegenheit der Agitation und Propaganda verpasst worden. Simples Beispiel: Die Anarchopedia, die ziemlich viele Demo-Sprechchöre auf ihrem Wiki zeigt, hat auch folgenden Eintrag aufzuweisen: „Gegen den Sozialabbau – organisiert den Kaufhausklau (Am Besten vor Kaufhäusern)“. Also, es macht wohl Sinn, vor einem Kaufhaus das zu rufen. Um einen möglichst guten Effekt im Sinne erfolgreicher Agitation und Propaganda zu erzielen, ist ein reiches Repertoire an Parolen, die auf  verschiedene Situationen und Themen ausgelegt sind, unabdingbar. Wer bei einem Polizeiübergriff mehr zu bieten hat als „Haut ab, haut ab, haut ab“ wird sicherlich die Herzen der PassantInnen zwar nicht im Sturm erobern aber doch zumindest ein bisschen rühren. Aber natürlich entstehen Parolen nicht von selbst. Sie werden von Menschen erdacht. Und erste Mutige müssen sie rufen. Doch ob sie dann als gängige Parole Verbreitung findet, liegt im Wesentlichen daran, ob andere sie auch mitrufen und dann immer wieder, bei unterschiedlichen Gelegenheiten selbst anstimmen.

Wir sind die wilden Horden, Wir plündern?und wir morden, wir waschen uns nie,?Hoch die Anarchie!

Oberflächlich betrachtet geht es bei Parolen erstmal um Inhalt. Es werden Werte hochgehalten („Hoch die internationale Solidarität!“), es wird Schlechtigkeiten der Kampf angesagt und manchmal werden, ganz platt natürlich, Zusammenhänge dargestellt („Kampf auf der Straße, Streik in der Fabrik, das ist unsere Antwort auf ihre Politik!“). Dass in gerufenen Parolen nicht ausführlich vernünftig argumentiert werden kann, sollten von Anfang an klar sein. Parolen müssen knackig und einprägsam sein. Sie werden in der Regel niemand überzeugen noch eine besonders klare, unwiderlegbare Weisheit verbreiten. Sie können aber sehr wohl Menschen begeistern und für die Beschäftigung mit Inhalten empfänglich machen. Parolen sind, ähnlich Zeitungskastenschlagzeilen, immer platt, weshalb es keine platten Parolen gibt, sondern nur Parolen. Notwendige Plattheit darf aber natürlich keine Entschuldigung für politisch fragwürdige oder falsche Parolen sein. Sexismus, Rassismus, Homophobie und andere diskriminierende Inhalte oder Sprachregelungen haben auch in Form von Parolen nichts auf linken Demos verloren. Auch derbe Beleidigungen sind Gewaltphantasien, die vielleicht in der simplen „Wir und die“-Philosophie des Fußballstadions ihre Berechtigung haben mögen, sind vielleicht im politischen Raum nicht immer die beste Wahl. Ein „Schlagt den Nazis die Schädeldecke ein“ ist halt recht beliebig, für manche abschreckend und sicher nicht besonders inhaltsvoll. Ein „Übergriffe rächen sich – Nazipack wir kriegen dich!“ in Verbindung mit einer Antirassistischen Parole wie „Flüchtlinge bleiben, Nazis vertreiben!“ transportiert da doch viel mehr. Ohnehin besteht bei sehr Gewaltaffinen Parolen, die auch einen gewissen Mackergestus bedienen, die Gefahr, eher lächerlich zu wirken. Denn unsere Militanz sollte sich nicht in Maulheldentum ausdrücken, sondern der Propaganda der Tat. Wer ruft, die Nazibanden platt zu machen, sollte sie halt auch platt machen.

Auch sollte bei Gesängen und Parolen, die schon lange existieren durchaus deren Geschichte hinterfragt werden. Letztendlich ist es auch immer sinnvoll die Frage zu stellen, ob die Parole überhaupt von uneingeweihten ZuhörerInnen verstanden wird. Sicher, es mag auch mal Sinn machen, nur was für die unmittelbaren DemoteilnehmerInnen zu rufen. Besser wäre es aber, wenn das was gerufen wird, auch von PassantInnen verstanden werden könnte. Bei bestimmten, eigentlich recht witzigen Varianten von Nazi-Parolen wie „Hier krepiert der nationale Widerstand!“ besteht auch immer die Gefahr, dass sie von ZuhörerInnen als die Originalparolen verstanden werden. Außerdem tragen sie trotz des veränderten Inhalts zur Verbreitung der Originalparole bei.

Zur besseren Verständlichkeit sollten bei Demos in der BRD  auch Parolen in der Regel in deutscher Sprache gerufen werden. Bei Parolen, die aus bestimmten Gründen in einer anderen Sprache gerufen werden, kann ja eine deutsche Übersetzung nachgeliefert werden. Bei der türkischen Parole „Faizme kar? omuz omuza“ wird seit Jahren die deutsche Übersetzung „Schulter an Schulter gegen Faschismus“ nachgerufen. Ein Grund für die Verwendung von Parolen in anderen Sprachen kann zum Beispiel darin bestehen, dass die Demonstration sich durch Straßenzüge bewegt, in denen viele Menschen die fragliche Sprache verstehen oder darin, dass die Zusammensetzung der Demo Mehrsprachigkeit nahelegt.

Allerdings setzen sich natürlich vor allem die Parolen durch, die erstens von vielen inhaltlich geteilt werden oder zumindest nicht auf Ablehnung stoßen und zweitens einfach zu rufen und leicht zu merken sind. In letzter Zeit wurde auch versucht, zu manchen Parolen eine gewisse Begleitchoreographie hinzuzufügen. „Siamo tutti antifascisti!“ (ital. „Wir sind alle Antifaschisten!“) wird zum Beispiel mit Händklatschen abgeschlossen, wobei der Klatschrhythmus dem Sprechrhythmus zuvor entspricht. Das klingt natürlich ganz famos, wenn viele mitklatschen, aber auch hier wird die begleitende Choreographie nur angenommen werden, wenn sie nicht zu kompliziert ist.

Die Mischung macht‘s

Es ist vielleicht ein Jammer, dass die allermeisten TeilnehmerInnen linker Demonstrationen nicht ihre ganze Kreativität aus sich herausschreien. So bleibt der Erfahrungsschatz dieser Menschen, ihre Emotionen und ihre Motivation, zu einer Demonstration zu gehen erstmal kaum wahrnehmbar. Wenn dann, wie zum Beispiel bei den Anti-Sozialraub-Demos 2004 und 2005 etwas leichtsinniges, geschichtsvergessenes oder dummes gerufen wird, wie zum Beispiel „Weg mit Hartz-4 – das Volk sind wir!“ dann sind wir als radikale Linke oft schneller dabei, diese Parolen zu kritisieren anstatt eigene, bessere Alternativen anzubieten. Ein gewisses Maß an Pluralität sollte die Linke ohnehin aushalten. Schließlich ist in der BRD kaum eine Organisation in der Lage, auf von ihnen vorbereiteten Demonstrationen für einheitliche Parolen zu sorgen. Und was wäre das überhaupt für ein grotesker Versuch? Genau wie Flugblätter, Aufrufe und Erklärungen sollten Parolen auch als Mittel des Diskurses und Gradmesser des Standes linker Bewegung verstanden werden. Wenn plötzlich Menschen „Hoch die antinationale Solidarität“ schreien, anstatt „Hoch die internationale Solidarität“ dann ist das nicht nur ein simples Austauschen von gleichbedeutenden Wörtern. Hinter sich wandelnden Parolen steckt auch oft ein sich wandelndes Bewusstsein. Dieses findet dann Ausdruck in Parolen, die auch eine gewisse Hegemonie erreichen können. Wenn alle etwas rufen, dann gilt das als verkollektivierter Inhalt. Dass bestimmte Parolen sich durchsetzen und andere nicht, liegt auch daran, welche Zustimmung die von ihnen transportierten  Inhalte aufgrund von bestimmten Mode-Theorien erfahren. Auch die generelle Zusammensetzung von DemonstrationsteilnehmerInnen spielt eine Rolle. In den letzten Jahren beteiligen sich erfreulicherweise auch aktive Fußballfans an Demonstrationen und bringen Erfahrungen aus der Stadionkultur mit ein. Dadurch ergibt sich aber auch eine leichte Verschiebung des Schwerpunkts vom Inhalt weg auf den Show-Effekt. Überall müssen Bengalos entzündet, Böller geknallt und Raketen verschossen werden. Auch die Parolen sollen Stimmung verbreiten, dabei wird gerne alles angenommen, was irgendwie cool klingt und dynamisch zu rufen – oder gar zu singen geht. Das ist eine gute Entwicklung, wenn sie nicht auf Kosten der Inhalte geht. Dass die derzeit wohl am häufigsten gerufene, nicht schon uralte Parole, nämlich „Alerta, alerta, Antifascista“ auch die identitärste, oft im Kontext sinnloseste Parole ist (vor allem wenn keine FaschistInnen da sind), zeigt, dass die Identität als AntifaschistIn/radikaler LinkeR etc. im Moment wohl im Vordergrund steht, die Agitation Außenstehender aber als nicht so wichtig angesehen wird.

„Vorwärts!“ lautet die Parole!

Bei Demo-Parolen, das dürfte deutlich geworden sein, handelt es sich um eine wichtige Ausdrucksform der radikalen Linken. Sie können Zusammenhalt schaffen oder genutzt werden, um Dissens zu zeigen. Parolen werden als Agitations- und Propagandamittel genutzt und auch mit ihnen werden Auseinandersetzungen geführt. Sie können spontan gerufen werden oder ihre Intonation kann organisiert geschehen. Sie bieten ein weites Feld an Möglichkeiten, das nicht vernachlässigt werden sollte. Jede Gruppe, die eine Demo oder Kundgebung vorbereitet, ist sicher gut beraten, sich über Parolen Gedanken zu machen. Dabei könnten folgende Fragen eine Rolle spielen: Welche Parolen kennen wir? Welche sind geeignet für den geplanten Anlass? Was wollen wir mit den Parolen erreichen und welche Inhalte sollen sie transportieren? Fällt uns was neues ein? Wie schaffen wir es, Menschen zum mitrufen zu bewegen? Wie wirken die Parolen auf TeilnehmerInnen und Außenstehende? Danach mit passenden Parolen gewappnet, beginnt das Ausprobieren, ob die geplanten Effekte erzielt werden können. Dabei passieren hoffentlich einige Überraschungen. Denn mangelnde Dynamik und Spontaneität machen selbst die effektreichste Demo zu einer recht langweiligen Veranstaltung.

Veröffentlicht in barricada – März 2012