Heute muss es knallen!

Wenn man sich die im Internet auffindbaren Amateur-Videos von der diesjährigen revolutionären 1. Mai-Demonstration in Berlin ansieht, wird einem die penetrante Präsenz von filmenden und fotografierenden Männern, die hinter prügelnden Polizisten stehen, auffallen. Während der sogenannten 18:00 Uhr-Demo lieferte die Polizei nämlich die von Film- und FotojournalistInnen so heiß begehrten Bilder: Sie ging in Höhe Linden/Markgrafenstraße, unweit des Jüdischen Museums, mit großer Brutalität gegen die Spitze der 1. Mai-Demonstration vor und löste die Versammlung mit Schlagstockeinsatz und Tränengas schließlich auf. Ein Schwarm „rasender Reporter“, teilweise mit Helmen bewaffnet, flankierte die sofort die prügelnden Einsatztruppen. Die Randale kam den vorher eher gelangweilten Reportern ganz gelegen. Ohne gewalttätige Auseinandersetzung wäre die Demonstration den meisten Medien wohl kaum eine Zeile wert gewesen und Bilder von DemonstrantInnen, die einfach nur ihre Meinung kund tun, will ja nun wirklich keiner sehen, der die Bild-Zeitung aufschlägt, oder? Im Nachhinein dominierte in der Berichterstattung trotzdem die Einschätzung, dass die Gewalt aber nicht so schlimm war, wie befürchtet. Die Polizei konnte, so zum Beispiel die Berliner Morgenpost, die „Gewalt schnell eindämmen“. Auch in Hamburg sei es, so Spiegel Online, nur „zu kleinen Randalen“ gekommen. Eine seltsame Sehnsucht nach Gewalt treibt die meisten ReporterInnen um. Stundenlang suchen sie nach ihr, z.B. auf der Vorabenddemo in Berlin Wedding. Als die Gewaltexplosion länger auf sich warten lässt, fällt es selbst dem Redakteur des eigens eingerichteten Tagesspiegel-Ticker schwer, nicht flapsig zu werden „Huch ist das alles aufregend – das denken sich offenbar viele Anwohner in Wedding. Tagsüber hatten sie die Veranstaltung gemieden. Nun wollen manche einen Blick auf die Demonstranten wagen. Gefahrensucher!“
Wenn auch der Tagesspiegel mangels Gewaltpornobildmaterials zu so einer Art Rosenmontags-Kommentierung greifen muss, um überhaupt etwas schreiben zu können, steckt die Mainstreampresse, was den 1. Mai betrifft, hoffnungslos im polizeistaatlichen Denken fest. Die Berichterstattung zum 1. Mai liefern folgerichtig dann oft die auf Polizeiberichterstattung spezialisierten ReporterInnen. Inhaltlich haben die „Berichte“ dann – auch das folgerichtig – nur die Polizeiverlautbarung zu bieten. Manchmal kommt, mit viel Glück, auch mal ein Veranstalter oder eine Veranstalterin einer 1. Mai-Demonstration zu Wort. Die dürfen dann aber meist nur sagen, dass die Polizei an der Eskalation schuld ist, das war‘s dann aber auch schon – um der journalistischen Ausgewogenheit zu genügen. Warum und wieso eine Eskalalation stattgefunden hat, oder warum eben halt auch nicht, darüber erfährt der oder die LeserIn wenig. Charakteristisch für die rein auf gewalttätige Auseinandersetzungen konzentrierte Berichterstattung ist auch, dass im Vorfeld der autonome Teufel an die Wand gemalt wird. Kommt dieser dann nicht so richtig raus, am 1. Mai, dann kann der polizeistaatliche Diskurs aber genauso fortgesetzt werden, als hätte es massive Auseinandersetzungen gegeben. In der Logik des Staates sieht das dann so aus:

  1. Eine linksextreme Demonstration muss von starken Polizeikräften begleitet werden
  2. Wenn es zu kleinen Auseinandersetzungen kam, ist es gut, dass starke Polizeikräfte vor Ort waren
  3. Wenn es zu größeren Auseinandersetzungen kommt, waren die Polizeikräfte nicht stark genug, man braucht noch mehr
  4. Wenn es zu gar keinen Auseinandersetzungen kommt, ist der Grund dafür, dass starke Polizeikräfte vor Ort waren

Nach dieser Logik handelt auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, wenn er feststellt, der Friede sei nur mit massivstem Polizeiaufgebot „einigermaßen garantiert“ worden.
Für den größten Teil der Mainstream-Presse und ihre rasenden PolizeireporterInnen ist mit dieser einfachen Logik schon die Welt erklärt. Dass die bloße Anwesenheit extrem gewaltbereiter Polizeiprügeltrupps eventuell für die meisten, (oft völlig einseitig zum Nachteil von DemonstrantInnen verlaufenden) Konfrontationen verantwortlich sein könnte, ahnen zwar die meisten JournalistInnen wahrscheinlich schon, sie schreiben es aber selten. Für die herrschende Politik ist, je nach ihrer momentanen Strategie und Taktik, auch der Grad der Auseinandersetzungen eher nebensächlich. Manchmal gibt es eben schwerstverletzte Bullen durch Steinwürfe und manchmal durch Sylvesterkracher. Aber die Gewalt findet immer statt, wenn die Polizei und ihre Herren das wollen. Der Anlass für Polizeigewalt ist dabei meist banal: Zusammengeknotete Seitentransparente, übersteigen von Gittern, zeigen einer verbotenen Fahne (ja, die Meinungsfreiheit gilt immer nur für die „richtige Meinung“). Und der ständige Zankapfel ist natürlich das Gewaltmonopol des Staates. Wer eben nicht akzeptiert, dass die Polizei jeden umhauen kann, der eine Ordnungswidrigkeit begeht, wird ebenfalls weggehauen. Schuld sind natürlich immer diejenigen, die (häufig) von der Polizei verprügelt werden oder sich (selten) effektiv zur Wehr setzen. Ihnen ginge es nur um Gewalt. Die Unterstellung der Ordnungspolitiker und ihrer allzu willigen Haus- und Hofpresse hat mittlerweile dazu geführt, dass selbst der gut besuchte 1. Mai in Nürnberg bei Bürgerseelen den Ruf einer Gewaltorgie hat – und das obwohl es in Nürnberg seit vielen Jahren ein autonomes Straßenfest gibt, auf dem wirklich nett ganz unterschiedliche Leute aus allen politischen Spektren zusammen mit StadtteilbewohnerInnen zu Tausenden zusammen feiern ohne dass Gewalt ausbricht. Und das – oh wunder – ganz ohne Polizei am Platz.
Wenn der Verfassungsschutz Tipps gibt
Fakt ist, dass es in Nürnberg tatsächlich gelungen ist, sich auf der Straße der polizeistaatlichen Inszenierung weitgehend zu verweigern. Man sollte halt nicht über jedes hingehaltene Schlagstöckchen springen. Auseinandersetzung mit der Polizei ist, im Gegensatz zum Tenor der Berichterstattung, nicht der Zweck der revolutionären 1. Mai-Veranstaltungen. In Nürnberg würden wohl kaum mittlerweile regelmäßig über 2000 bis 3000 Menschen an der revolutionären Demo teilnehmen, ginge es ihnen ausschließlich um Gewalt. Jedes Volksfest bietet da mehr und befriedigendere Gelegenheiten sowohl für SadistInnen als auch MasochistInnen. Nein, die TeilnehmerInnen der revolutionären 1. Mai-Demonstrationen kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen und eine gewisse Bereitschaft zur Militanz mag bei vielen vorhanden sein. Wenn sie aber der einzige Zweck wäre, dann würde es sicher keine Demonstration geben. Warum auch? Um Bullen aufzulauern und Schaufenster einzuschlagen braucht es keinen 1. Mai. In Berlin wird, ob der angeblich viel kleineren Ausschreitungen, schon vom lokalen Verfassungsschutz über den Zusammenbruch der autonomen Szene fabuliert. Dass es „den Autonomen“ um etwas anderes gehen könnte, als PolizistInnen zu verletzen und Tante-Emma-Läden zu plündern, kann man sich bei dem Geheimdienst mit dem höchst irreführenden Namen nicht vorstellen. „Der Trend zu zunehmender Teilnahme bei gleichzeitig abnehmender Gewalt im Rahmen der Veranstaltungen rund um den 1. Mai hält an. Es bleibt abzuwarten, ob die autonome Szene dieses Signal versteht“ schreibt der Berliner Verfassungsschutz und liefert auch gleich selbst die Antwort: „Bisher fehlt den Autonomen jedoch die Fähigkeit zu einem entsprechend grundsätzlichen Strategiewechsel. Sie erkennen nicht oder nehmen bewusst in Kauf, dass sie sich mit ihrem ‚revolutionären Habitus‘ der Möglichkeit berauben, an zivilgesellschaftliche und zum Teil bürgerlich geprägte Proteste nachhaltig anzuknüpfen.“
Der Verfassungsschutz empfiehlt der radikalen Linken also, ihren eigenen Erfolg zum Anlass zu nehmen, ihre Strategie zu ändern. Kurios! In dem Text wird zudem deutlich, dass die AutorInnen davon ausgehen, dass es wohl Ziel jeder linksradikalen politischen Intervention sein müsse, mehr Leute zu spontaner Randale zu bewegen. Offensichtlich ist der Verfassungsschutz hier so vollständig dem selbst gezeichneten Zerrbild von der radikalen Linken aufgesessen, dass er sich schon als Ratgeber für Revolutionäre anbiedern muss: „Mensch Kinder! Macht doch mal was Vernünftiges!“ Doch ähnlich wie den PolizeireporterInnen in den Zeitungsredaktionen fehlt es den Schlapphüten einfach an Vorstellungsvermögen, warum Menschen die Veranstaltungen der radikalen Linken am 1. Mai besuchen – und dass sie das trotz der recht erfolgreichen Medienhetze gegen sogenannte „Autonome“ tun.

Wenn die Hetze zum Selbstbild wird

Aber so viel Brainfuck wie er tagtäglich nicht nur durch die Medien verbreitet wird, muss natürlich auch in „der Szene“ Opfer fordern. MancheR meint, zu einer richtig revolutionären Demo gehöre auch ein bisschen Randale. Wenn sie ausbleibt, dann wurde die Demo „vom Staat gezähmt“, sei langweilig und natürlich überhaupt nicht radikal. Wenn keine gewalttätige Auseinandersetzung stattfand, wird das als Niederlage gesehen. Abgesehen davon, dass solche Auseinandersetzungen mit der Polizei auf Demonstrationen relativ häufig in einer Niederlage enden, vor allem, wenn sie keinen vermittelbaren Zweck hatten, ist es sinnlos, Gewalt als die einzige Kommunikationsform zu begreifen, die Aufmerksamkeit erzeugt. Das mag auf die oben beschriebene Mainstreampresse zwar zutreffen, der größte Teil der für revolutionäre Politik ansprechbaren Menschen aber wird Veranstaltungen, bei denen es regelmäßig zu unkalkulierbarer Gewalt kommt, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage eher fernbleiben. Auch gegenüber der Polizei gibt es rein militärisch wenig zu gewinnen. Während Straßenmilitanz gegen FaschistInnen funktionieren kann, braucht es doch erheblich mehr, damit die Polizei eingeschüchtert ist. Wesentlich besser funktioniert gegen sie der öffentliche Druck, der aber schwerlich aufgebaut werden kann, wenn sich die Polizei als Opfer böser Autonomer darstellen kann. Dass die veranstaltenden Gruppen von revolutionären 1. Mai-Demos – in Nürnberg immerhin ein Bündnis aus über 25 Gruppen – gut beraten sind, nicht alles hinzunehmen, was einzelne DemoteilnehmerInnen gerade opportun finden und andere übermäßig gefährdet, ist die eine Sache. Die andere ist, dass eine linksradikale Demonstration keine starre, von Anfang bis Ende durchgeplante Angelegenheit sein darf. Die DemonstrationsteilnehmerInnen sollten sich bewusst machen, dass sie als Einzelpersonen auch eine Teilverantwortung für die ganze Versammlung und deren Verlauf haben. Das bedeutet, für den Ausdruck einer Demonstration sind alle verantwortlich. Für die Solidarität gegen eventuelle Bullenangriffe genauso, wie für niederschwellige Propaganda der Tat, die die Demo als Ganzes nicht gefährdet, aber widerständige Zeichen setzt. Zeichen, wie z.B. wohlplatzierte Farbbeutel, die andere dazu animieren können, selbst Sand im Getriebe zu sein. Aber eine Verpflichtung zur Militanz gibt es genau so wenig wie die Bullen darauf Rücksicht nehmen, ob man nun „was gemacht hat“ oder nicht. Doch sinnvolle, kämpferische Aktionen können so vielfältig sein, wie die verschiedenen Wege zum Kommunismus. Wichtig ist, dass der 1. Mai dynamisch und vielseitig bleibt und nicht nur Erlebnisorientierten dazu dient, einmal im Jahr Dampf abzulassen. Der revolutionäre 1. Mai ist Anfangs- und Endpunkt eines Jahres revolutionärer Politik, an dem wir immer wieder feststellen können, ob wir eine Basis haben und wie diese aussieht. In Nürnberg wurde es geschafft, unberechenbar zu bleiben und wo früher 200 Menschen kamen, kommen heute Tausende. Dass es da immer welchen zu langweilig und manchen zu heftig zugehen wird, ist abzusehen. Die Gewaltfantasien von Bullen, Presse und manchen Polit-Hools sollten jedoch für eine linksradikale Bewegung, die es ernst meint mit der Abschaffung von Ausbeutung und Unterdrückung, kein Maßstab sein.

Erschienen in
barricada – Mai 2012