Von Menschen und anderen Spezies

Die bittere Geschichte des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia fand weltweit ein großes Echo in der medialen Öffentlichkeit. Nachdem das Luxusschiff am 13. Januar nahe der italienischen Insel Giglio mit einem Felsen kollidierte, leck schlug und schließlich sank, konnte man die Rettungsarbeiten mit minutiöser Berichterstattung des Rundfunks und der Websites verfolgen – jedes Mal mit genauen Informationen über das Schicksal der sich an Bord der Costa Concorida befindenden deutschen TouristInnen. Neben dem berechtigten Interesse der Medien, dadurch eventuell ihre LeserInnen, ZuschauerInnen und ZuhörerInnen über die Situation, in der sich ihre Angehörigen befinden, zu informieren, drückte dies gewiss eine höhere Wertschätzung der Deutschen durch Deutsche und ihre Identifizierung mit einem nationalen Kollektiv aus – die Grundlage eines jeden Nationalismus. Ist die Hervorhebung der deutschen Passagiere – 566 von insgesamt 4229 Menschen, die zum Zeitpunkt des Unglücks an Bord waren – ein (unbewusster) Ausdruck des nationalen Denkens, so erzählt die mediale Darstellung des Ganzen die triste Geschichte unserer Zivilisation.
Zu kritisieren ist nicht das, was gesagt wurde, sondern das, was in den Mainstreammedien bisher systematisch verschwiegen wurde und mit großer Wahrscheinlichkeit weiter verschwiegen werden wird: Freilich ist der Tod von 17 und das Verschollen-Sein von 15 Menschen im Mittelmeer wert, in den Medien ein großes Echo zu finden. Allerdings reiht sich die Havarie der Costa Concordia in die alltägliche Normalität im Mittelmeer ein, würde man nicht zwischen wertem und unwertem Menschenleben unterscheiden. So sind zum Beispiel bei den größten zwanzig Schiffskatastrophen im Mittelmeer seit 2006 161 Menschen gestorben und 2014 Menschen verschollen. Dass die Opfer dieser Katastrophen in den Mainstreammedien kaum Beachtung fanden, liegt einfach daran, dass sie keine (reichen) weißen EuropäerInnen waren, sondern ausschließlich afrikanische Flüchtlinge.

Die Welt als ein Spinnennetz von vielen Faktoren funktioniert so kompliziert, dass einfache Erklärungen über die Gesellschaft und die Geschichte, die nur einen – wenn auch wesentlichen – Faktor unter die Lupe nehmen, oftmals zum Scheitern verurteilt sind; aber diese Erkenntnis kann in manchen Fällen auch täuschend wirken, wenn die Erkenntnis eines Ereignisses durch die Wahrnehmung nackter Tatsachen möglich ist: Was die Costa Concordia, das 28. größte Seeunglück im Mittelmeer seit 2006, zum „wichtigsten??? macht, ist der „Wert??? ihrer Passagiere, der sich von der Stellung ihrer Länder im kapitalistischen Weltsystem und von ihrer individuellen Stellung in demselben zusammensetzt. (Normale Passagiere zahlten zwischen 2000 und 6000 Euro für die Fahrt – von VIPs abgesehen.) Wer „was leistet???, muss schließlich auch „das Leben (auf Luxuskreuzfahrtschiffen) genießen??? können. Wenn der Normalbetrieb so gestört wird, dass das (gute) Leben reicher weißer EuropäerInnen in Gefahr ist, ist das ein Phänomen, das mediales Interesse erweckt. Wenn hingegen afrikanische Flüchtlinge, die mehrmals ihr Leben aufs Spiel setzen müssen, um das Mittelmeer zu überqueren, auf der Suche nach einem besseren Leben oder bloß um ihrem Tod zu entkommen, und dabei zu Tausenden sterben, ist dies keine Systemstörung, sondern das System selbst. So ist ihr Sterben, ein Massenmord durch die europäische Abschottungspolitik, so normal, dass es nicht erwähnenswert ist. (Eine alte Journalismusmaxime sagt: „Wenn ein Hund einen Mann beißt, ist das keine Nachricht, weil es so häufig geschieht. Aber wenn ein Mann einen Hund beißt, ist es eine Nachricht.???)

Jedes Jahr verlassen Zehntausende von Menschen die afrikanische Mittelmeerküste, in überfüllte Fischerboote gedrängt, in seeuntauglichen Schlauchbooten unterwegs, und jedes Jahr kommen Tausende – wenn nicht Zehntausende – von ihnen nicht auf europäischem Boden an. Wenn diese nicht von den Wellen des Mittelmeers verschlungen werden, werden sie von Küstenwachen nordafrikanischer Staaten, die zu diesem Zweck von der Europäischen Union (mit-)finanziert, ausgebildet und mit modernsten Technologien ausgestattet werden, und der europäischen Grenzschutzagentur, der Frontex, aufgefangen und nach Afrika zurückgebracht oder – was auch nicht selten passiert – einfach in den Tod getrieben.

Wenn die Passagiere der Costa Concordia Pannen und Schlamperei beklagen, haben sie natürlich Recht. Und wenn die Weltöffentlichkeit erfährt, dass mehr getan werden könnte, um Menschenleben zu retten, ist das auch gut so. Schlecht wäre es aber auch nicht, wenn dieselbe Öffentlichkeit mitbekommen würde, dass ungefähr ein halbes Jahr vor der Costa Concordia ein eritreisches Flüchtlingsboot zwei Wochen lang vor der italienischen Küste kreuzte, vor den Augen der anwesenden NATO-Schiffe, der Frontex und der italienischen Küstenwache, bis 61 der 72 Passagiere starben. Man kann sich die hiesige Berichterstattung ja gar nicht vorstellen, wenn es um 61 deutsche TouristInnen ginge. Auch wenn Flüchtlingsboote „bei der Rettung??? versenkt werden, wovon es zahlreiche Beispiele gibt, handelt es sich um „Hund beißt Mann???-Geschichten. Festzuhalten bleibt, dass 32 reiche Weiße mehr wert sind als 2175 arme AfrikanerInnen.

Die Frontex kostet der Europäischen Union jedes Jahr Millionen, ihr Ziel ist afrikanische Flüchtlinge draußen zu halten. Ob sie dabei von nordafrikanischen Staaten in menschenunwürdigen Bedingungen gehalten oder gar umgebracht werden, ist uninteressant. Ob sie dabei aufgrund ihrer extrem unsicheren Transportmittel oder gar mit „europäischer Hilfe??? auf den Grund des Mittelmeers sinken, ist ebenfalls uninteressant. Es geht schließlich nicht um sie, sondern um Europa. Wenn zum Beispiel die bundesdeutsche Bildungsministerin Anette Schavan erklärt, „zur Idee der europäischen Kultur??? gehöre „die herausragende Stellung des Menschen??? (Wie wichtig sind Vorbilder? Interview mit Anette Schavan und Hans Joas, in: Philosophie Magazin, Nr. 2, Februar/März 2012, S. 10-15), schließt die Definition des „Menschen??? stets „wohlhabend??? und „europäisch??? ein. Denn der relative Wohlstand, der „die herausragende Stellung des Menschen??? überhaupt ermöglicht, ist mit dem Elend anderer (Nicht-) Menschen systematisch verbunden.

Die kapitalistische Globalisierung, nicht seit sie als positiv oder negativ konnotierter Begriff in Mode gekommen ist, sondern schon mit der Kolonisierung als eine wesentliche Profitquelle des europäischen industriellen Kapitalismus zu seiner Geburtsstunde, zerstört Lebensgrundlagen von Milliarden von Menschen, notfalls ohne sie durch etwas anderes zu ersetzen. Europäisches Kapital durchkämmt die Herkunftsländer der Flüchtlinge nach Rohstoffen; baut Billigproduktionsexklaven, wenn rentabel; erschließt Absatzmärkte, wenn vorhanden bzw. schaffbar. Wenn ein Land bzw. eine Region dabei dem kapitalistischen Weltmarkt nichts anzubieten hat außer Rohstoffe, wird dessen bzw. deren Bevölkerung überflüssig. Das heißt, es erwarten sie zwei Alternativen: Haben sie Glück, können sie hungern und einen langsamen Tod erleiden. Läuft etwas schief, bricht ein Krieg oder Bürgerkrieg aus, in dem ausgehandelt werden soll, wer für das westliche Kapital den Handlanger spielen darf, sind die „Überflüssigen??? mit Massakern, Vergewaltigungen, Vertreibungen konfrontiert. Und – letztendlich egal, welches der beiden Schicksale ihres ist – tun sie das, was an ihrer Stelle jeder Mensch tun würde: Sie versuchen dem Tod zu entkommen.

Die Trennung zwischen wertem und unwertem Leben vollzieht sich nicht nur durch den Tod der Flüchtlinge zwischen den afrikanischen und europäischen Mittelmeerküsten (wenn nicht schon davor), auch nicht durch das von europäischen Staaten und europäischem Kapital (mit-)geschaffene menschenunwürdige Leben in ihren Herkunftsländern. Ein Bruchteil der Flüchtlinge, die ihre Länder verlassen haben, versucht nach Europa zu gelangen und ein Bruchteil von diesen schafft es tatsächlich. Aber auch dann erwartet sie kein einfaches Leben.

Der Krieg gegen die Flüchtlinge wird also nicht nur an den Außengrenzen der Europäischen Union geführt, sondern ist Alltag in der BRD selbst. Haben es Flüchtlinge geschafft in die BRD zu kommen, bestimmt fortan Ausgrenzung ihre Situation: Lagerunterbringung, Residenzpflicht, Arbeitsverbote, Asylbewerberleistungsgesetz, Angst vor Abschiebungen und Abschiebehaft. Seit Jahren wird die „Ausländerpolitik??? verschärft und legitimiert gesetzlich die Diskriminierung der MigrantInnen und Flüchtlinge. Politisch und sozial sind sie weitgehend rechtlos.

Der Aufenthalt in Flüchtlingslagern bedeutet unhygienische Lebensbedingungen, viel zu wenig Mittel, um ein menschenwürdiges Leben zu führen und Isolation. Viele Lager sind so genannte Dschungelcamps fernab jeglicher Stadt, so dass den dort lebenden Flüchtlingen unmöglich gemacht werden soll mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Die wenigsten Flüchtlinge werden in Europa als solche legalisiert, viele müssen „ohne Papiere??? leben, das heißt sie haben weder Aufenthalts- noch Arbeitsrecht und ihnen droht ständig die Gefahr abgeschoben zu werden. Bei der Abschiebung wird meistens nicht beachtet, ob die Menschen in ihren Herkunftsländern eingekerkert, gefoltert oder ermordet würden.

Nur wenige AsylbewerberInnen werden als Flüchtlinge offiziell anerkannt oder erhalten ein Abschiebeverbot. Selbst dies bringt jedoch keine Garantie für einen sicheren Aufenthalt. Es besteht nach wie vor die Gefahr eines Widerrufs des erreichten Aufenthaltsstatus und damit auch wieder die Gefahr der Abschiebung.

Die Abschiebehaft ist das härteste Sanktionsmittel für alle diejenigen, denen nichts vorgeworfen werden kann, außer dass sie sich ohne gültige Ausweispapiere in der Bundesrepublik aufgehalten haben und sich weigern, an ihrer eigenen Abschiebung, ihrer nicht freiwilligen Ausreise in das Land ihrer FoltererInnen oder in ein Leben in Armut und Unterdrückung, mitzuwirken. Selbst Minderjährige werden in Abschiebehaft genommen, welche bis zu 18 Monaten dauern kann. Sind die normalen Flüchtlingslager Gefängnissen nicht unähnlich, bedeutet der Abschiebeknast Isolationshaft. Nicht selten sterben Menschen in diesen unmenschlichen Bedingungen; durch die repressive Behandlung durch den Staat psychisch aus dem Gleichgewicht gebracht, nehmen sich viele das Leben – aus Angst vor der Abschiebung und dem, was sie in ihren Herkunftsländern erwartet.

Die „privilegierte??? Minderheit, die sich schließlich legal in Deutschland (oder in einem anderen EU-Land) aufhalten darf, gehört in der Regel zur untersten Schicht der Gesellschaft, arbeitet und lebt in präkeren Verhältnissen. Neben den staatlichen Schikanen macht ihnen auch der Alltagsrassismus der Gesellschaft, welche durch die mediale Das-Boot-ist-voll-Propaganda systematisch reproduziert wird, das Leben schwer. Europa hat für sie keine Menschlichkeit übrig. Die von Frau Schavan angesprochene „herausragende Stellung des Menschen??? wird ihnen verwährt. Denn in einem von Kolonisierung, imperialistischer Ausbeutung, Kriegen und Kapitalismus geprägten Europa ist „der Mensch???, der tatsächlich eine „herausragende Stellung??? inne hat, weiß und reich. Er lebt von der Ausbeutung und Unterdrückung einer anderen Spezies, für die er nichts als Verachtung übrig hat.

Erschienen in barricada – Zeitung für autonome Politik und Kultur – Februar 2012