Und wieder ein verrückter Einzeltäter – In Norwegen mordete der antimuslimische Rassismus

Am 22. Juli 2011 waren alle Augen auf Norwegen gerichtet, ein für die Medien eher uninteressantes Land am nördlichen Ende Europas. Anders Behring Breivik, selbsternannter Kreuzzügler und Tempelritter, vollbrachte an jenem Tag den bislang größten antimuslimischen Terrorakt in Europa. Um auf die „Islamisierung“ Europas aufmerksam zu machen, welche eine gemeinsame Verschwörung von „Kulturmarxisten“ und Muslimen sei, ließ Breivik zuerst im Regierungsviertel von Oslo eine Autobombe hochgehen, die acht Menschen tötete und mehrere Gebäude erheblich beschädigte. Anschließend fuhr er in Polizeiuniform und mit einer schusssicheren Weste auf die Insel Utoya, auf der sich das Zeltlager der Jugendorganisation der regierenden sozialdemokratischen Partei Arbeiderpartiet befand. Unter dem Vorwand, sie über den Bombenanschlag in Oslo informieren zu wollen, rief er die meist jugendlichen Anwesenden im Zeltlager zusammen und erschoss danach 69 von ihnen.

Warum Breivik das sozialdemokratische Jugendzeltlager angriff, um die „islamische Kolonisierung Europas??? zu bekämpfen, erklärt sich dadurch, dass die „Kulturmarxisten???, die seiner Meinung nach vom ehemaligen britischen Premiereminister Tony Blair über Jose Manuel Barroso, den Vorsitzenden der Europäischen Kommission, bis hin zu Barrack Obama reichen, laut Breivik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges systematisch Machtpositionen (vor allem im kulturellen und Bildungsbereich) erlangen und “die Hassideologie namens Multikulturalismus??? verbreiten, um “europäische Kulturen und Traditionen, europäische Identitäten und das Christentum und sogar europäische Nationalstaaten zu dekonstruieren??? und dadurch den Untergang europäischer Nationen einleiten würden. Und Breivik beklagt den „fatalen Fehler???, dass in Westeuropa keine Marxisten hingerichtet oder in die Sowjetunion abgeschoben wurden. Sozusagen stellen die Mitglieder der sozialdemokratischen Jugend aus Breiviks Sicht „die kulturmarxistischen Diktatoren??? der Zukunft dar, die durch ihre Unterstützung der „muslimischen Massenimmigration“ die Vernichtung von allem, was europäisch sei, bezwecken würden. Also sind die Anschläge sowohl als bewaffnete Propagandaaktion als auch als einen Präventivschlag gegen „den Feind??? zu sehen.

Die Muslime, die klammheimlichen Verbündeten der „Kulturmarxisten???, führen einen Dschihad, so Breivik, um Europa endgültig unter ihre Herrschaft zu bringen. Dieser Krieg der Muslime habe viele Facetten: Neben den gewalttätigen, demographischen, institutionellen, kulturellen, ökonomischen, bildungspolitischen und medial-propagandistischen Dschihadarten existieren laut Breivik auch der kriminelle Dschihad und der Drogenverkaufsdschihad. In dieser Verschwörungstheorie sind alle Taten muslimischer (oder muslimischstämmiger) Migranten miteinander verbunden: Von Vergewaltigungen, Raubüberfällen und Morden an EuropäerInnen über die angeblich hohen Geburtenraten muslimischer Familien bis hin zum – ebenfalls herbeihalluzinierten – geschlossenen Agieren muslimischer Staaten in den Vereinten Nationen, stünden alle Taten von Muslimen in demselben Zusammenhang, dem heiligen Dschihad, und hätten die Unterwerfung Europas zum Ziel. Die Muslime existieren in dieser hirnrissigen Vorstellung nur als ein totalitäres Kollektiv, dessen Mitglieder keine Interessen oder sonstige Beweggründe haben können, die mit dem angeblichen Ziel des Kollektivs im Widerspruch stehen oder von diesem nur abweichen. Die einzige Gegenwehr ist aus Breiviks Sicht nur dadurch möglich, dass christliche Europäer sich ebenfalls als ein Kollektiv organisieren, dessen Prinzipien „Stärke, Ehre, Aufopferung und Märtyrertum??? seien.

Bis die Identität des Täters und seine Beweggründe von der norwegischen Polizei bekannt gegeben wurden, herrschte überall die Meinung, Norwegen sei Opfer eines islamistischen Terroranschlags geworden. Diese Theorie wurde nicht nur von antimuslimischen, rassistischen Sekten wie pi-news verbreitet, sondern sämtliche „Terrorexperten??? verloren keine Zeit mit der Untersuchung von Fakten, bevor sie im Fernsehen erklärten, dass wohl die Islamisten hinter dem Anschlag stünden. Dass diese „Vermutung??? der Mehrheit der Menschen glaubhaft erscheinen konnte, ist sicherlich darauf zurückzuführen, dass „die islamistische Terrorgefahr??? seit 9/11 medial, wenn auch nicht real, allgegenwärtig ist.

Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg sagte zwei Tage nach den Anschlägen: „Noch sind wir geschockt, aber wir werden unsere Werte nicht aufgeben. Unsere Antwort lautet: Mehr Demokratie, mehr Offenheit, mehr Menschlichkeit.??? Selbst wenn wir die Fragen, wie demokratisch, offen und menschlich der norwegische Staat ist und was der sozialdemokratische Ministerpräsident unter diesen Begriffen versteht, beiseite lassen, bleibt zu klären, wie die Antwort Norwegens (oder der ganzen westlichen Welt) aussähe, sollte ein Attentäter tatsächlich ein Islamist sein. Vergleicht man die islamistischen Anschläge in Europa mit der systematischen Panikmache, lässt sich mit großer Sicherheit behaupten, dass der Massenmörder von Utoya die mediale Öffentlichkeit viel mehr und vor allem ganz anders beschäftigen würde, wenn er ein Islamist wäre: Während sich die Anschläge in Europa, die einen islamistisch-fundamentalistischen Hintergrund haben, an den Fingern einer Hand abzählen lassen, erzeugen die Medien und Politiker den Eindruck, als stünde ganz Europa vor einer existenziellen Bedrohung, um deren Beseitigung willen die Menschen teilweise auf ihre Grundrechte verzichten müssten. Den Herrschenden geht es natürlich nicht darum, eine rationale Analyse des Islamismus zu liefern, sondern die ganze Panikmache dient letzten Endes nur einem: der Aufrüstung nach innen und nach außen, der Schaffung eines Feindbildes, das massive Aufrüstung, Militarisierung, Kriege und immer weiter eingeschränkte Grundrechte rechtfertigt.

Breivik, nicht einer der muslimischen MigrantInnen, sondern ein echter Europäer, dazu noch aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, hätte die Vorstellung, wie ein Terrorist auszusehen habe, in ihren Grundfesten erschüttern müssen; hat er aber nicht. Denn er war ein Einzeltäter, eine Ausnahme, die die Regel bestätigt: Die Terrorgefahr geht immer noch von ihnen aus, den Islamisten (die in der medialen Sprache nicht selten ein Synonym für Muslime sind), denn die Anschläge der islamistischen Fundamentalisten hätten ihre Wurzeln im Islam; während Breivik, der den Kreuzzug 2.0 gegen den Islam erklärte, ein „Irrer??? bleibt, obwohl er internatiationale Kontakte zu antimuslimischen, rassistischen Gruppen und Organisationen wie English Defence League pflegte, deren Ableger Norwegian Defence League er in Norwegen mitbegründete, und den Versuch unternahm, ein europaweit agierendes Terrornetzwerk aufzubauen, welches einen christlichen „Befreiungskrieg??? gegen „den Islam, den Multikulturalismus und den Kulturmarxismus??? führen sollte. (An dieser Stelle wäre zu fragen, worin zum Beispiel der wesentliche Unterschied zwischen George W. Bushs Absichtserklärung „gegen das Böse einen Kreuzzug zu führen??? und Saddam Husseins Dschihaderklärung gegen die USA und Israel besteht  – außer in unserer Wahrnehmung.)

Die Darstellung eines rechten Terroristen als irren Einzeltäter hat Tradition: Während die Taten einzelner Linker von Medien und Gerichten gerne verkollektiviert und somit ganze politische Zusammenhänge kriminalisiert werden, werden Nazis und andere Faschisten fast immer als Einzeltäter dargestellt und verurteilt. Seit dem 11. September ist gegen die Islamisten/Muslime in dieser Hinsicht ein ähnlicher Mechanismus am Werk wie gegen die Linke: Wenn ein echter oder nur angeblicher Islamist etwas macht, haben alle muslimischen Migranten diese Tat quasi mitzuverantworten. Dass ein türkischstämmiger Hauptschüler in Frankfurt mit den Attentätern vom 11. September nicht mehr gemeinsam hat als ein italienischer oder armenischer Buchhalter christlichen Glaubens mit Anders Behring Breivik, spielt dabei keine Rolle.

Ein Grund dafür, warum Faschisten den relativen Schutz von Herrschenden genießen, ist mit Sicherheit, dass Breiviks Kameraden als militanter Flügel und propagandistische Speerspitze der systematisch an Boden gewinnenden antimuslimischen Ideologie fungieren und sich damit als nützliche Idioten für die antimuslimische Hetze der Herrschenden erweisen, mit der sowohl Kriege als auch der Ausbau der staatichen Repressionsapparate legitimiert werden. Dabei sagen und machen sie Sachen, die von Staat, Mainstreammedien und der so genannten politischen Mitte in derselben Offenheit nicht gesagt bzw. gemacht werden könnten, da diese Institutionen sonst ihr “demokratisches???, “zivilisiertes??? Gesicht verlieren würden. (Eine ähnliche Rolle wie die antimuslimischen HetzerInnen spielten die deutschen Nazis beim so genannten Asylkompromiss, also der faktischen Abschaffung des Asylrechts in der BRD, indem sie Wohnhäuser mit hohem Migrantenanteil und Asylbewerberheime angriffen und dadurch den von den herrschenden erwünschten “Volkszorn??? inszenierten.)

Andererseits bleibt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem ideologischen Hintergrund der Anschläge in Norwegen auch deswegen unerwüscht, weil diese offen legen würde, wie groß die Überschneidungen zwischen der antimuslimischen Propaganda der ökonomisch/politisch/kulturell Herrschenden und der der „Kreuzzügler??? aller Couleur sind. In der Tat besteht der wesentlichste Unterschied zwischen den „Vernünftigen??? und den „Irren??? darin, dass Letztere offen von der Vertreibung der Muslime vom christlichen Boden reden, während Erstere sich dieselbe Offenheit nicht leisten können. Dass dem Wesen des Islam und des Muslims etwas boshaftes und unzivilisiertes innewohne, das den abendländischen, d.h. christlichen Werten diametral entgegenstehe, eint den militanten Flügel der Muslimhasser nicht nur mit den so genannten Rechtspopulisten (wie der niederländischen Freiheitspartei oder den deutschen Pro-Gruppen), sondern auch mit der „politischen Mitte???. Um die tiefe Verankerung der antimuslimischen Ideologie aufzuzeigen, genügt zu sagen, dass sie über die Antideutschen bis in linke Kreise hinein wirkt, die normalerweise rassistische Feindbildkonstruktionen als solche erkennen sollten.

„Der Muslim???, der weltweit dieselben Wesenszüge aufweise und ausschließlich bzw. hauptsächlich durch seinen Glauben zu definieren sei, existiert dabei in der Realität nicht. Er ist ein ideologisches Konstrukt der antimuslimischen Ideologie, genauso wie „der Jude??? eine Erfindung des Antisemitismus ist. Der Islam – genauso wie andere Religionen, aber auch Ideologien usw., die in ihrer Existenz zeitlich wie geographisch nicht sehr beschränkt sind – ist historischen Veränderungsprozessen unterworfen, die ihn von nationalen, regionalen o.ä. Kulturen und vom „Zeitgeist??? abhängig machen. Aber die Muslimhasser, die von Breivik über die gutbürgerlichen PropagandistInnen bis hin zu Antideutschen reichen, müssen von dieser Tatsache absehen, denn es bedarf eines totalen Feindes, der an sich böse ist, um einen ebenso totalen Krieg ausrufen zu können.

Als in der Unmenschlichkeit von Breiviks Anschlag das wahre – rassistische und aggressive – Gesicht der so genannten Islamkritik enttarnt zu werden drohte, setzte sich nicht nur der „radikale??? Flügel der antimuslimischen Front zur wehr, sondern sprachen diverse Mainstreamblätter von der Welt bis hin zur Frankfurter Allgemeine Zeitung von einer „linken Hetzjagd auf Islamkritiker, Konservative und Christen???. So schrieb zum Beispiel Matthias Matussek im Spiegel, dass es ein „religionspolitischer Irrtum??? sei, „Breiviks Anschlag als christlichen Terrorismus misszuverstehen.??? Man dürfe nicht in die Kurzschlussfalle tappen, in Breiviks Mord „die verzögerte Antwort auf den islamistischen Mord??? am 11. September 2001 zu sehen. Nach Matussek existiere kein christlicher Fundamentalismus („Christlicher Fundamentalismus – Wo soll der sein????), ein islamischer hingegen schon. Denn: wenn ein Christ im Namen des Christentums mordet, exkommuniziere er sich selbst. Wenn dagegen ein Muslim mordet und sich dabei auf den Islam bezieht, betreffe dies das Wesen des Islam. So sind die Muslime eben, unzivilisierte Barbaren, die sich auf ihre unzivilisierte, barbarische Religion beziehen. Ganz im Stil des alten „wer ein Jud’ ist, bestimme ich.??? Wer ein Muslim ist und genauer wie er sich zu verhalten hat, bestimmt der Christ/Deutsche/Europäer.

Wer nicht spätestens hier merkt, dass es nicht um den Islam, das Christentum oder die Demokratie geht, sondern um „uns“ und „sie“, wie es bei rassistischen Ideologien immer der Fall ist, steht bereits unter dem Einfluss des „Kampfes der Kulturen???, der sich selbst erfüllenden Prophezeiung der imperialistischen Kriegstreiber. So ist die so genannte Islamkritik: Mit Religionskritik hat sie nichts gemein. Sie ist nur der neuere, schickere, zivilisiert anmutende Ausdruck des Jahrhunderte alten Rassismus.

Wer mit seiner Kritik an „unserer“ Religion vorbei schießt und nur die der Anderen trifft, reiht sich – bewusst oder unbewusst – in die Front der “Islamkritiker??? ein und ergreift auf der Seite der hiesigen Herrschenden Partei – in einem Krieg gegen ohnehin unterdrückte MigrantInnen und Menschen in den Ländern, die imperialistischen Raubzügen zum Opfer fallen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, antimuslimische RassistInnen, egal wie sie sich ausgeben mögen – ob übliche Nazis, gutbürgerliche “IslamkritikerInnen??? oder angeblich linke Antideutsche, zu enttarnen und ihre Pseudokritik zu entzaubern.

Erschienen in
barricada – Sommer [II] 2011